Ich weiß, dass ich nichts weiß …
Sokrates, um 480 v.Chr.

Liebe KollegInnen,

zumindest das ist sicher, wir wissen einfach nichts, sind uns dessen aber inzwischen bewusst. Wo wir noch vor sechs Wochen gespannt das gesamte Fernsehprogramm und die sozialen Medien im Minutentakt abgefragt hatten, um die neuesten Erkenntnisse von Wieler, Drosten oder Kekule zu erfahren, sind wir doch einigermaßen ernüchtert. Keiner weiß irgendetwas, was gestern noch galt, ist heute schon passé. Die Empfehlungen der Wissenschaft sind heute noch die gleichen wie zur Zeit der  Beulenpest, der Cholera, der spanischen Grippe oder anderen unbekannten Katastrophen der Weltgeschichte.

„Bleibet fern, haltet Abstand, bedecket Euer Angesicht!“

Ohne das kritisieren zu wollen, hätte man von so honorigen Institutionen wie dem Robert-Koch-Institut oder der Leopoldina doch irgendetwas mehr wissenschaftliches erwartet.

Nun, wir wären wohl langsam bereit: Spuckschutzwände sind installiert, Masken besorgt, Bodenmarkierungen vorhanden, Desinfektionsmittel gebunkert und brav Hygienehinweise verteilt. So wartet auch unsere Branche – wie so viele andere – auf die mögliche nächste Welle der „Erleichterungen“. So wird sie ja ganz sicher kommen, aber für wen und in welcher Reihenfolge?

Im sprachlichen Duktus der Virusreportagen trat immer mehr der Begriff „Systemrelevanz“ auf. Klingt wohl irgendwie belesen und nicht ganz so bildungsfern wie „lebenswichtig“? Ich weiß es nicht. Was ich aber sehr wohl weiß, ist, dass es barer Unsinn ist. Lebenswichtig sind Nahrung, Wärme, Obdach, Wasser und Kleidung. Wer nie das Unglück hatte, einer echten Krise beizuwohnen, mag wohl Baumarktbesuche oder Friseurgänge als relevant beurteilen. Nur sind sie es nicht.

Was aber ist denn systemrelevant? Kurz und knapp: Alles! In unserer vernetzten globalen Marktwirtschaft gibt es keine Graduierung der Wichtigkeit. Egal ob Automobilproduktion, Schwimmunterricht, Frikadellen braten oder Kartoffeln schälen. Es greift alles ineinander und der Ausfall eines einzigen dieser „Systeme“ bringt die ganze Maschinerie zum Wanken. Die Marktwirtschaft funktioniert wie eine Rakete der Apollo-Missionen aus den 60er-Jahren. Ist nur ein Teil fehlerhaft oder fehlt gar, scheitert die ganze Mission und die schöne teure Rakete explodiert.

In der Marktwirtschaft mag das der Wurstverkäufer vor dem Fußballstadion sein? Kein Fußball, keine verkaufte Wurst, keine Pacht, keine Klassenfahrt für die Tochter, kein neuer Fernseher zu Weihnachten, kein Geld für den Nachhilfelehrer und natürlich auch keine Steuern. Dies erzeugt eine Kettenreaktion bei allen Kontakten des Wursthändlers, die in irgendeiner Weise mit einer Zahlung zu tun haben. Am Ende der Rechnung fügt sich alles mit allem zusammen und jeder ist betroffen. Viele behandeln unsere fragile, filigrane Marktwirtschaft als wäre sie eine Blockflöte, die auch mal mit einer Hand gespielt werden kann. Das ist sie aber nicht, sie ist das größte denkbare Symphonieorchester und braucht jede Stimme. Das Gute: Sie wird sich selbst heilen, wenn es nicht zu lang gedauert hat. Wie lang dieser Zeitraum ist, kann kaum jemand errechnen.

Deshalb tut der Staat derzeit alles, um die Wirtschaftsbetriebe in Bereitschaft zu halten, das ist leider in den meisten Ländern keineswegs so komfortabel wie bei uns! Wir bekommen also derzeit vom Staat die Mittel, um den Zustand des „Stand-by“ auch längerfristig zu ertragen.

Unser Vorschlag: Nutzen Sie das! Planen Sie eine Schließung über mindestens drei Monate und kalkulieren Sie eine Reserve von weiteren drei Monaten für mögliche Anlaufschwierigkeiten. Umso besser, wenn es nicht so kommt und Sie die Mittel nicht einsetzen müssen. Ich persönlich rechne nicht mit so einer langen Schließung, aber Sie als Unternehmer können sich schlechterdings nicht auf meine Einschätzung verlassen, ich könnte durchaus irren, da ich ja auch nicht mehr weiß …

Vorschlag Nummer zwei: Klagen Sie nicht! Damit meine ich keineswegs das allgemeine Klagen über die Krise. Wenn es Ihnen hilft, warum nicht? Ich meine damit eher den juristischen Weg. Klagen Sie bitte weder gegen die Schließungen noch um Schadenersatz. Auch wenn viele Juristen Ihnen das derzeit empfehlen, werden Sie wohl nichts ausrichten. Sie werden es halt zahlen müssen.
Sobald es aber eine Schieflage in den Öffnungswellen gibt, werden wir Ihnen ganz sicher sogar flächendeckend den Klageweg empfehlen, hoffen aber, dass dies nicht nötig ist. Sollten unsere Betriebe nicht mit anderen öffnen, die in der Gefährdungsbeurteilung zumindest gleichgestellt sind, geht es dann ganz offensichtlich nicht mehr um Infektionsschutz, sondern um politische Motive.

Schadenersatz? Tatsächlich derzeit ein viel diskutiertes Thema. Tendenziell eher unwahrscheinlich, aber nichtsdestotrotz nicht völlig ausgeschlossen. Es liegen derzeit schon diverse Gutachten zu dem Thema vor und wir in der Verbändewirtschaft sind in diesem Thema juristisch bestens beraten und sozusagen bis an die Zähne bewaffnet. Allerdings ist derzeit noch keine Eile geboten, auch wenn einige Ratgeber drängen und der Ansicht sind, hier würden Rechte verfristet. Selbstverständlich haben Sie noch bis Mitte Juni Zeit, entsprechende Schritte einzuleiten. Auch dazu werden wir Sie rechtzeitig und kompetent beraten.

An dieser Stelle von meiner Seite ein großes Dankeschön an das Team der Geschäftsstelle, unsere exzellente juristische Betreuung und die große Kollegialität in der Vorstandsarbeit. Ich denke, ich schreibe für alle aus dem Team, wir können es kaum erwarten, unseren Mitgliedern so schnell wie möglich wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten und freuen uns schon jetzt auf die nächsten gemeinsamen Veranstaltungen.

Hier noch meine persönliche Einschätzung zur Öffnung: Einige Länder wollen offensiv weiter öffnen und sind recht ansprechbar. Auf Landesebene gibt es in der Verbandsarbeit einvernehmlichen Kontakt zu vielen Entscheidungsträgern. Der Bund will eher weniger als die meisten Länder, das RKI will am liebsten gar nichts, am Ende wird es ein Kompromiss. Donnerstag tagt die MPK, die nächsten  Verfügungen der einzelnen Länder werden dann in der darauffolgenden Woche erwartet. Solange werden sich die Bürger aber nicht ruhig halten lassen, ich rechne mit einem guten Wissenstand am Abend des 30.4. Allerdings rechne ich selbst noch nicht mit einer Öffnung, realistisch ist eher die nächste Öffnungswelle, die Mitte bis Ende Mai stattfinden sollte – ich lasse mich aber sehr gern positiv überraschen.

Herzlichst,

Ihr Frank Waldeck